ERINNERN & ERHALTEN – DENKMALSCHUTZ UND DENKMALPFLEGE – FÖRDERUNG VON KUNST UND KULTUR

Eine Erinnerung an Hans Carossa und seine Leser im Freundeskreis Weiße Rose

Ein literarisch musikalisches Gedenken am 22. Februar 2017.

„… nach innerer Freiheit und Selbstbestimmung trachten …“.

Eine Erinnerung an Hans Carossa und seine Leser im Freundeskreis Weiße Rose.

Programmfolge
Musik von Johann Sebastian Bach (1685 – 1750)
Gedichte von Hans Carossa (1878 – 1956)

„Goldberg-Variationen“: Aria und Variation VII (BWV 988), bearbeitet für Orgel
„Unzugänglich schien der Gipfel …“
„Finsternisse fallen dichter …“
Begrüßung und Einführung
Menuett I und II aus der Suite in G-Dur für Violoncello (BWV 1007), bearbeitet für Alt-Saxophon
„Ein Stern singt“
Ursula Weger: Hans Carossa – Dichter und Ehrenbürger von Landshut
Sarabande aus der Partita für Flöte Solo in a-Moll (BWV 1013)
„An eine Katze“
„Der Kranke“
Aus: „Jesu bleibet meine Freude“ (BWV 147). Bearbeitung für Violine und Orgel
Dr. Friedrich Bruckner: Hans Carossa und seine Leser im Freundeskreis Weiße Rose (Willi Graf, Geschwister Scholl)
„Der alte Brunnen“
Goldberg-Variationen: Aria da Capo e fine (BWV 988)

Es lesen: Johannes Bitzinger, Christina Oberhofer, Alina Ruhland, Barbara Simon, Antonia Wackerbauer

Es musizieren: Elias Haslauer (Klavier), Lisa Leitl (Altsaxophon), Simon Lindner (Orgel), Hannah Müller (Flöte), Bernhard Werthmann (Violine)

Hans Carossa – Dichter und Ehrenbürger Landshuts

Wir müssen wachend weiterbauen, was träumerisch begann.
Der Dienst ist groß, er lässt kein Grauen an unsern Mut heran.
An gelbem Blatt glänzt eine Traube in jugendschöner Hand.
Der Herbst ließ dem entfärbten Laube noch einen grünen Rand.

Diese Zeilen schrieb Hans Carossa 1942 angesichts der sich abzeichnenden Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Mit genau diesen Worten beendete Hans Carossa seine Danksagung anlässlich seiner Ernennung zum Ehrenbürger Landshuts im Rathausprunksaal am 16. Januar 1949, eine Ehrenbürgerschaft, auf die Landshut und seine Bürger auch heute noch stolz sein dürfen.

Doch was führte zu dieser engen Verbindung Hans Carossas zu Landshut und zu seiner Aufnahme in die illustre Reihe der 46 Ehrenbürger der Stadt, zu denen auch die Künstler Willi Geiger und Hugo Högner oder die Politiker Roman Herzog und Josef Deimer gehören?

Hans Carossa ist kein Sohn dieser Stadt und doch verbrachte er nach eigener Aussage – ich zitiere aus seiner Danksagung am 16. Januar 1949 – „ die eindrucksvollsten empfänglichsten Jahre seiner Jugend…vom zehnten bis zum neunzehnten Jahr“ in Landshut, „in einer Zeit des Friedens, von Vertrauen getragener Ära, in der die Menschen, die uns bildeten, noch tief an unersetzliche Werte glaubten. Dieses alles war ein Glücksfall, der für mein ganzes Leben wohltätig fortgewirkt hat.“

Blicken wir ein wenig in die Vorgeschichte zurück:

Am 15. Dezember 1878 in Bad Tölz geboren, verbrachte Hans Carossa die ersten beiden Lebensjahre zeitweise bei Pflegeeltern, da seine Mutter, die Tochter eines königlichen Bezirksrates aus München, erst heiraten durfte, nachdem ihr zukünftiger Mann sein ärztliches Abschlussexamen abgelegt hatte.

In seiner autobiographischen Schilderung „ Eine Kindheit“ erzählt Hans Carossa recht anschaulich von unbeschwerten Kindertagen, ein wenig getrübt lediglich durch die Tatsache, dass er später in Pilsting als „Stadtkind“ von seinen Mitschülern viele Hänseleien erdulden musste. Nach dem Tod seines zweijährigen, um sieben Jahre jüngeren Schwesterchens und der Geburt seiner Schwester Stefanie sollte der aufgeweckte Zehnjährige ein humanistisches Gymnasium besuchen. Die Wahl der Eltern fiel auf Landshut, das sie von früher kannten.

Wie seine Erzählung „Verwandlungen einer Jugend“ eindrücklich schildert, war die erste Zeit für den kleinen Hans nicht einfach. Die Hackordnung unter den Mitschülern im Internat, dem Studienseminar, die Trennung von Zuhause, die strengen Regeln machten ihm das Eingewöhnen schwer. Ich zitiere: „Aber was hilft es dem Gelähmten, wenn man ihm die Unversehrtheit seiner Muskeln beweist? …Ich hoffte auf Lehrer hinraffende Seuchen oder ein allverwandelndes Weltereignis und regte mich nicht.“

Langsam findet er jedoch Zugang zu einigen Mitschülern, schließt Freundschaften, die zum Teil ein Leben lang halten, und entdeckt die deutschen Klassiker als Lektüre. Eine glückliche Wendung bedeutet sein Umzug zu einem jungen Lehrer, dem Professor Hilgärtner, und dessen Frau zur Untermiete. Sie wohnen schräg gegenüber dem Gymnasium in der Freyung. Seine enge Freundschaft zu den Mitschülern Hugo Mott und dem musikbegeisterten Walter Gagg ermuntert ihn zu ersten literarischen Gehversuchen, einem Gedicht auf einen verstorbenen Lehrer und einem Gedicht auf einen Mitschüler , die anonym bzw. nur mit dem Kürzel „C“ am 20. und 21. Dezember 1896 im „Kurier für Niederbayern, Landshuter Tag- und Anzeigenblatt“ erscheinen. Schon in diesen frühen Gedichten zeigt Hans Carossa seine Vorliebe für anschauliche Bilder aus der Natur, um innere Empfindungen auszudrücken, und seine große Sorgfalt in Wortwahl und formaler Gestaltung.

Nach dem erfolgreich bestandenen Abitur nimmt Hans Carossa in München ein Medizinstudium auf und kommt dort in Kontakt mit namhaften Vertretern der literarischen Szene wie z.B. Richard Dehmel, Frank Wedekind, Karl Wolfskehl und Stefan George. Der Zwiespalt zwischen der bürgerlichen Existenz eines Arztes und der künstlerischen Berufung zum Dichter wird ihn sein ganzes Leben nicht mehr loslassen und so nimmt neben der Führung seiner Praxis in Seestetten, Passau und München sein literarisches Schaffen immer größeren Raum ein. Er lernt Franz Werfel und Rainer Maria Rilke kennen und verkehrt immer mehr in Kreisen der Schwabinger Boheme. Schrieb er zunächst fast ausschließlich Gedichte, so wendet er sich seit seinem Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg immer mehr der Prosa zu. Ein monatliches Fixum des Insel-Verlags ermöglichen ihm Aufenthalte in Italien und umfangreiche Vortragsreisen. 1931 erhält er den Gottfried Keller Preis, 1938 den Ehrendoktor der Universität Köln und den Goethe – Preis Frankfurts. 1933 lehnt er die Berufung in die Preußische Dichterakademie ab, übernimmt aber nolens volens auf Drängen von Goebbels 1941 das Amt des Präsidenten des „Europäischen Schriftstellerverbands“, das er mit äußerster Zurückhaltung ausübt. Dies bestätigt auch Frank- Rutger Hausmann in seiner im Jahr 2004 erschienenen Geschichte der Europäischen Schriftstellervereinigung, wenn er schreibt: „ Carossa wurde gewählt, weil er kein NS-höriger Schriftsteller war, im Ausland hohes Ansehen genoss und somit unverdächtig war, ein NS-Propagandist zu sein.“ Trotz gelegentlicher unvermeidbarer pateikonformer Äußerungen, habe er insgesamt ein untadeliges Verhalten gezeigt und ein Eintreten für Liberalität und Völkerfreundschaft, die in der damaligen Zeit ihresgleichen suchte“. Zitat Ende. Auch Carl Zuckmayer charakterisierte Hans Carossa 1943 für den amerikanischen Geheimdienst als „Einzelgänger von unbedingter Integrität und Noblesse“, der sich, wo immer es ging, in die innere Emigration zurückzog.

Auch nach dem Krieg ist Hans Carossas Popularität ungebrochen. Er wird Gründungsmitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und erhält 1948 anlässlich seines 70. Geburtstages die Ehrendoktorwürde in München und die Ehrenbürgerschaft Passaus. Sein Werk, das in einer Gesamtausgabe 1949 ca. 1500 Seiten umfasst, wurde bereits damals in 17 Sprachen übersetzt, seine Erzählungen „Eine Kindheit“ und „Verwandlungen einer Jugend“ waren Schullektüre in England.

So verwundert es nicht, dass im November 1948 auch in Landshut Stimmen laut werden und sich beim damaligen Oberbürgermeister Albin Lang für eine Ehrenbürgerschaft des berühmten Dichters einsetzen, allen voran Professor Ludwig Renner, Frau von Straelen und seine Freunde Walter und Rosa Gagg, die ihm bei seinen Landshut-Besuchen oft Quartier boten. Seine bis heute zitierte Turmbesteigung von St. Martin oder seine Schilderung der Landshuter Hochzeit sind beredte Zeugnisse seiner engen Verbundenheit zum Ort der prägenden Jahre vom Kind zum Erwachsenen.
Bereits am 10. Dezember 1948 erfolgte der einstimmige Stadtratsbeschluss zur Verleihung der Ehrenbürgerwürde am 16. Januar 1949 – eine wahrhaft sportliche Terminsetzung! Die Urkunde wurde von Franz Hoegner gestaltet, die Ansprache von Prof. Renner übernommen. Und selbst an einer ganz besonderen Überraschung für den Dichter, der von Hermann Hesse für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen worden war, sollte es nicht fehlen: Die Zöglinge des von ihm besuchten humanistischen Gymnasiums errichteten ihm zu Ehren zusammen mit dem Stadtgartenamt die Carossahöhe, ein Aussichtspunkt, der von Carossa als Schüler bei Spaziergängen besonders gern aufgesucht wurde und sich bis heute großer Beliebtheit erfreut .

Die Benennung des „Humanistischen Gymnasiums mit Realgymnasium“ als „Hans Carossa Gymnasium“ erfolgte allerdings erst 1961, fünf Jahre nach seinem Tod.
Die Schlussworte seiner Dankesrede am 16. Januar 1949 erweisen ihn als einen Mann mit einem tief verankerten Humanismus, der auch nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs – erinnern Sie sich an das eingangs zitierte Gedicht? – am „entfärbten Laub“ den „grünen Rand“ wahrzunehmen vermag und in unerschütterlicher Zuversicht auffordert:
Wir müssen wachend weiterbauen, was träumerisch begann.
Der Dienst ist groß, er lässt kein Grauen an unsern Mut heran.
Dabei weist er der Jugend eine besondere Rolle zu und erweist sich so als Zukunftsvisionär, der einem humanistischen Gymnasium als Namenspatron auch heute noch gut ansteht:
„von allen Bemühungen der Nachkriegszeit erscheint mir keine für die Zukunft unseres Volkes so erfreulich, so bedeutungsvoll, wie die zunehmende Förderung, die der Verkehr junger deutscher Menschen mit der Jugend des Auslandes erfährt, im Wissen dass dies das beste Mittel zur Wiedererweckung des gegenseitigen Vertrauens ist und dass ohne solches Vertrauen die zukünftige Einigung der europäischen Völker, also die Erneuerung des Abendlands, undenkbar ist.“

Ursula Weger

Meine Beobachtungen zu „Carossa und den Carossalesern Willi Graf und Geschwister Scholl“ habe ich auf drei Felder verteilt:

– Hans Carossa und die Familie Scholl
– Hans Scholl liest Carossa
– Willi Graf liest Carossa

Dazwischen gibt es zwei Einschübe:
– Lesen im Freundeskreis Weiße Rose
– Carossa in der Öffentlichkeit.

Lassen Sie mich mit einem Brief vom 18. Februar 1953, geschrieben in München-Harlaching, beginnen:

„Verehrter Herr Dr. Carossa,
in diesen Tagen kam mir ein Buch meines Sohnes Hans in die Hand: Das Jahr der schönen Täuschungen. Auf der ersten Seite ist von der Hand meines Sohnes eingetragen (dabei liegt ein rotes Rosenblatt): 1941
virtutum omnium fundamentum pietas.
Ich weiß von ihm, dass er einst sehr für Sie begeistert war und Ihre Bücher gerne las. Nun sind es 10 Jahre her, dass er nicht mehr unter uns weilt. Wir wohnen in der Nähe der letzten Ruhestätte unserer Kinder und würden uns freuen, wenn Sie anlässlich eines Aufenthaltes in München unser Gast wären.
In geistiger Verbundenheit
Ihr ergebener Robert Scholl mit Frau.“

Wenn wir diesen schönen Brief richtig einordnen wollen, führt der Weg zunächst ins Jahr 1949 zurück. Das lateinische Zitat wird uns später beschäftigen.
Carossa wollte sein Buch „Ungleiche Welten“ mit dem Untertitel „Lebensbericht“, an dem er seit Jahren arbeitete, 1949 abschließen und deswegen von „Sängerfahrten“ – so nannte er salopp seine Lesungen – absehen. Der Siebzigjährige las aber trotzdem (in Landshut zur Semestereröffnung der VHS), in Ulm anlässlich Goethes 200. Geburtstag. Die Leiterin der VHS Ulm, Inge Scholl, ältestes der Geschwister Scholl, hatte ihn schon im Vorjahr eingeladen. Sie kündigte Carossa als einen Dichter an, der in den Umwälzungen der Gegenwart „noch festen Boden unter den Füßen hat“ und im Sinne Goethes „vor innerer Zerstörung bewahrt“. Neun Jahre früher, im Kriegsjahr 1940, hatte sie ihren Bruder Hans damit trösten wollen, dass es „eine gewisse Beruhigung und Genugtuung sei, dass Menschen wie Carossa […] lebendigen Leibes neben uns stehen“. Sie schloss den Brief mit dem Carossa-gedicht „Selige Gewissheit“ – der Gewissheit, dass alle Menschen in einer Heimat des Geistes geborgen sind. Bei Inge Scholl war das Vertrauen zu Carossa also über das Inferno des Weltkrieges und den Zusammenbruch hinaus ungebrochen.

1949 war Carossa in Ulm auch Gast bei den Eltern Scholl. Für sie verkörperte er an sich das Bild einer „lauteren Persönlichkeit“. Allerdings waren Robert Scholl Zweifel gekommen, die er gerne nicht gehabt hätte, seit Carossa 1941 die „Präsidentschaft bei Hitlers Deutscher Dichterakademie“ – er meinte damit die Europäische Schriftstellervereinigung – übernommen hatte.
Das Gespräch in Ulm hat aber bei ihm alle Zweifel beseitigt, so gesteht Robert Scholl später (1951) in einem Brief beinahe erlöst. Er bedankt sich auch für die Zusendung von „Ungleiche Welten“, Carossas „Lebensbericht“ über seine Jahre unter der national-sozialistischen Herrschaft. Dieses Buch sei für ihn „ein Zeugnis für Carossas seltene Guete, Weisheit und hohes Menschentum“ und habe ihn so beeindruckt, dass er dem bayerischen Kultusminister geschrieben und empfohlen habe, „Ungleiche Welten“ möge (als Unterrichtsmittel) im Deutsch- und Geschichtsunterricht eingesetzt werden.
Bemerkenswert, von wem diese Empfehlung kommt.

[einem erklärten Hitlergegner von Anfang an, der Hitler als größte Gottesgeißel bezeichnete, deshalb und wegen Abhörens von Feindsendern ins Gefängnis kam, Berufsverbot erhielt, in Sippenhaft genommen und nach dem Februar 1943 im täglichen Leben geächtet war, als Vater von Vaterlandsverrätern.]

Der im Brief vom Februar 1953 ausgesprochenen Einladung nach München ist Carossa gefolgt. Er verband sie in der Osterwoche 1953 mit einem Besuch von Bachs Matthäuspassion. Das damals neu erschienene Buch Inge Scholls „Die weiße Rose“ hat er wiederholt gelesen – im Gedenken an Sophie und Hans Scholl, die – wie er es formuliert – „für ihren großen, klaren Freiheitsmut ihr Leben hingegeben haben“. Seinem Brief legte er noch das Gedicht „Der Acker der Zeit“ bei.

Als Autograph können Sie es anschließend – drüben im Foyer – sehen. Carossa hat sich 1939 mit diesem Gedicht bei seiner alten Schule für die Glückwünsche zu seinem 60. Geburtstag bedankt.

Zum Lesen im Freundeskreis „Weiße Rose“

In diesem Kreis hatten sich musisch interessierte und begabte, auch sportliche und vor allem sehr belesene junge Leute zusammengefunden – aus den verschiedensten Regionen Deutschlands.
Geburtsjahrgang plus-minus 1918 sind sie in einer harten und aufgewühlten Nachkriegszeit aufgewachsen und in der Zeit schlimmster Tyrannei erwachsen geworden.

Bücher – oder ihre Bücher waren für sie etwas Wertvolles und Unersetzliches.
Spektrum und Qualität der Literatur, die sie lasen, machen heute noch Staunen – ebenso wie das geistige Profil der Leser.
Gerade im Freundeskreis der Geschwister Scholl pflegte man schon zu Schulzeiten eine „leidenschaftliche“ Lesekultur. Der Einzelne las nicht nur für sich, sie lasen gemeinsam und diskutierten über Bücher und Autoren.
Briefe, auch Liebesbriefe sind ein ganz wichtiges Medium für den literarischen Gedankenaustausch. Für uns heute eine unentbehrliche Quelle.
In den Münchener Lese- und Diskussionsabenden von 1941 an wurde dann die Literatur wichtig, mit der sich ein begründbares Fundament für das eigene Denken und Handeln legen ließ – für eine humane Gegenwelt zur „brutalen Negation der Werte“.

[Intensiv wurden jetzt Augustinus, Dostojewski, Autoren des renouveau catholique wie Claudel, Bernanos, Maritain, Schriftsteller wie W. Bergengruen, R. Schneider usw. gelesen und diskutiert.]

Sich ihre Lektüre vorschreiben lassen, das wollten diese jungen Menschen, denen es um ein existentielles Verhältnis zu Literatur ging, ganz und gar nicht. Lesen, das war Freiheit und Selbstbestimmung.

Hans Scholl liest Carossa

Einige seiner Carossabücher werden heute in der Bibliothek des Instituts für Zeitgeschichte in München aufbewahrt. Es hat mich sehr berührt, als ich die in grünes Insel-Leinen gebundenen Bücher aufgeschlagen und durchgeblättert habe. Als ich dann Bleistiftmarkierungen fand, konnte ich fast mitlesen – in Carossas Lebensgedenkbuch „Führung und Geleit“.

Dieses autobiographische Werk ist 1933 erschienen, behandelt den Lebensabschnitt bis 1918 (Endphase des 1. Weltkriegs). Carossa verstand es „eigentlich … als eine Danksagung an Mitlebende“ darunter z. Bsp. Thomas Mann, Stefan Zweig, Pater Rupert Mayer, allesamt schon 1933 Regimegegner bzw. mißliebig. Geschrieben habe er es „vor allem (für) solche Menschen, die über […] „das tätige Leben“ hinaus „nach innerer Freiheit und Selbstbesinnung trachten“. Hans Scholl las das Buch in der Auflage von 1938 zwischen Ende seiner Militärausbildung, der Vorbereitung auf das Medizinstudium und dem Beginn des 2. Weltkrieges. Es war auch eine Lektüre in einer Zeit persönlicher Krisen.
Nach einem Gerichtsverfahren, in dem er wegen unsittlicher Handlungen und bündischer Umtriebe angeklagt war – aber 1938 freigesprochen bzw. amnestiert wurde -, ist seine alte Werte-Welt zusammengebrochen. „Mit dem Willen zum Guten“ will er neu anfangen. Er sucht über selbstverfasste Gedichte (die erst jüngst gefunden wurden), Gedichte vorwiegend religiösen Inhalts, Mariengedichte, Gedichte über Natur und Transzendenz geistig und seelisch klar zu kommen. In einem bevorstehenden Krieg sucht er kein Heldentum, sondern „Läuterung“. Übrigens ein Grundgedanke bei Hans Carossa nach dem 1. Weltkrieg!

Raube das Licht aus dem Rachen der Schlange!“

„Andern ein Licht auf ihre Bahn zu werfen, indem ich die meinige aufzeigte, dies war also mein Vorsatz; aber es konnte nur durch die traumverwandten Mittel der Kunst geschehen.“

Zielsicher hat Hans Scholl hier das Motto für Carossas Weltbild markiert. „Raube das Licht aus dem Rachen der Schlange“ – will sagen: Das „Licht […] ist stärker, gültiger, endgültiger als Chaos und Grauen.“ Das Licht ist das unvergängliche Gute – auch wenn es in einer Welt des Bösen nicht mehr sichtbar leuchtet. Es ist die Aufgabe des Dichters, diese Erkenntnis weiterzugeben – und so „anderen ein Licht auf ihre Bahn zu werfen“. Auftrag und Bestimmung des Dichters, gerade in bewegten und gefährlichen Zeiten, sind vergleichbar mit dem Dienst des Arztes, der auch in höchster Gefahr z. Bsp. zwischen den Fronten, unbeirrt seinen Dienst tut: Menschen heilen.

„Beseelte Jugend lässt sich nicht so leicht aufzehren“ – hat Hans Scholl auch noch angestrichen, eine Ermutigung, die er ganz auf seine damalige Situation und auch sein Wollen beziehen konnte.

Die Markierungen im Text lassen sich leicht deuten: Hans Scholl sucht nach einer Person als Vorbild – die in einer Lebensentscheidung steht und sich ihrer Bestimmung bewusst wird. Und die findet er in Hans Carossa als Arzt und Dichter. Für Hans Scholl, der Arzt werden will, weil „der Dienst am Kranken […] die große Menschlichkeit“ sei, kann Carossas Lebensgedenkbuch „Führung und Geleit“ ein Wegweiser zu „innerer Freiheit und Selbstbesinnung“ sein. Es ist bei ihm ein Ringen um geistige Freiheit und Selbstbestimmung geworden, eine sehnsuchtsvolle und leidenschaftliche Suche mit Brüchen, Umwegen und Krisen.

Willi Graf liest Carossa

Willi Graf, der aus der katholischen Jugendbewegung Neues Deutschland kam, fand erst 1942 über die zweite Münchner Studentenkompanie und dann den gemeinsamen Russlandeinsatz in den Kreis um Hans Scholl und Alexander Schmorell. Er ist ein eifriger, treuer und überlegt urteilender Carossaleser, der vom Rumänischen Tagebuch an alles, was bis 1941 von Carossa erschienen war, einschließlich der Gedichte, gelesen hat – und kennt. Carossas Werke gehören für ihn zu den Büchern, über die man „nachher“ diskutieren kann. Das tut er auch sehr ausführlich in einem Brief aus Russland (März 1942) an seine Schwester Anneliese, die in einzelnen Prosawerken eine durchweg positive Grundhaltung vermisst und deshalb enttäuscht ist.
„Du müßtest auch mal die Gedichte von ihm lesen, um den Dichter besser verstehen zu lernen“, empfiehlt er ihr. Eine Empfehlung mit literarischem Gespür, die auch Carossa selbst gegeben hätte. Sah er doch in seiner Prosa „eigentlich nur einen Anreiz, seine Gedichte zu lesen“, weil sich in ihnen das Wesentliche besser sagen lasse.
In ebenso persönlicher wie überlegener Art entwickelt Willi Graf dann seine Leseerfahrungen und macht der Schwester klar, was er Carossa verdankt: „Ich finde, Carossa sagt uns viel, vor allem können wir bei ihm die Ehrfurcht vor ernsten Dingen lernen, die uns oft fehlt.“ Man könnte hinzufügen: Und uns so auf uns selbst besinnen.

Carossa in der Öffentlichkeit

Willi Graf ist – soweit zu ermitteln – der einzige aus dem Freundeskreis Weiße Rose, der eine Lesung Carossas besucht hat – und zwar am 5. Mai 1942 im großen Saal der TU München. Er notiert das in seinem Tagebuch; aus den Münchener Neuesten Nachrichten (MNN) erfahren wir mehr: Der Rezensent (Karl Ude) rühmte in seiner Besprechung die „erhellende[n] Kraft, die von Carossas Wort und Haltung ausgeht“. Weil der Leseabend wiederholt werden müsse, fragt er sich: „Zeugt dies nicht dafür, wie sich die Herzen immer mehr dem Wesentlichen zuwenden?“

[Was war das „Wesentliche“ bzw. was hatte Hans Carossa gelesen? Gedichte: Der alte Brunnen, An das Ungeborene; Das Mädchen von Dobrolawny. (Eine galizische Antigone), Prosa: ‚Grabkirche von Ravenna‘ aus „Aufzeichnungen aus Italien“; Abschnitte aus „Das Jahr der schönen Täuschungen“ (1. Studienjahr in München).]

Dieses „Wesentliche“, was die Menschen hörten und hören wollten, hat nichts mit nationalsozialistischem Gedankengut zu tun – und das gilt für alle Lesungen und Carossas Bücher auch. Und deswegen waren seine Lesungen so gut besucht und die Lesergemeinde wuchs, selbst wenn die Organisatoren staatliche Organe (z. Bsp. Reichsschrifttumskammer, Ministerien etc.) waren.
Nicht der äußere organisatorische Rahmen ist m. E. die richtige Perspektive, man sollte nach innen schauen.

Dazu noch ein paar mehr oder minder offizielle Meinungen aus der Zeit des 3. Reiches:

Zeitschrift „Völkische Kultur“ (1934): „Viele lieben ihn als ihr Gegenteil“ […], „denn Carossa (ist) kein Mensch des wagenden ungestümen Jahrhunderts.“

„Die Bücherkunde“ 1942 (zuständig für Buchempfehlung in öffentlichen Bibliotheken): Als „Das Jahr der schönen Täuschungen“ besprochen – und auch empfohlen wurde, meinte der Rezensent, bei Carossa sei der Inhalt ja nicht so wichtig. Dem moralisch einwandfreien Buch und dem hohen Menschentum des Verfassers tue es aber keinen Abbruch. Schließlich wüssten aber alle, dass Carossa „kein Mensch unserer Zeit“ ist.

Was man aber nicht übersehen darf: Carossas Lesungen und Publikationen wurden von offizieller Seite natürlich registriert und bei gegebenem Anlass heftig kritisiert.

1935 hielt man ihm anlässlich einer Lesung in München vor, dass er „nicht den richtigen Instinkt für unsere deutsche Wirklichkeit“ habe, wenn er Verse auf den Tod des jüdischen Verlegers Samuel Fischer veröffentliche (MNN).

1941 wollte ein Parteigrande in Soest eine Lesung verhindern, weil Carossa „das deutsche Volk in die Arme der katholischen Kirche zurücktreibe“. Beleg: Einige Stellen aus „Jahr der schönen Täuschungen“, wo z. Bsp. vom ewigen Licht die Rede war, das aus der Theatinerkirche nach außen strahlt.

Kehren wir zurück in den Innenraum der Lektüre:

Hans Scholl und Willi Graf beim Lesen des „Jahres der schönen Täuschungen“

Ich möchte vorausschicken, dass hier Mitglieder der sog. Studentenkompanie lesen, die als Soldaten im Sanitätsdienst zum Studium beurlaubt wurden und ihr „Praktikum“ – auch – an der Front ableisten mussten, inmitten von Kriegsgräueln und auswucherndem Vernichtungskrieg. Zudem: Carossas „Jahr der schönen Täuschungen“, das letzte Carossabuch, das zu ihren Lebzeiten erschien, haben beide, noch bevor sie sich kannten, zu verschiedenen Zeiten, erwartungsvoll gelesen. Willi Graf hat sogar vorab den Abschnitt „Prüfungen“ bei Carossas Lesung in München gehört.

Das Buch über Carossas erstes Münchner Studienjahr (1897/8), das von der Selbsterfahrung des Studenten Carossa, den unklaren Vorstellungen vom späteren Berufsweg handelt, zugleich aber die Zeit um die Jahrhundertwende sehr farbig schildert, – dieses Buch wird eher reserviert aufgenommen. Hans Scholl sieht zwar noch einige Parallelen zur Studienzeit von damals, aber die Lebenswirklichkeit der Gegenwart fordere die Gewissensentscheidung für das „Echte“. Und die ist gefallen und heißt: Widersagen, Widerstand gegen Gewalt, Menschenverachtung, Unterdrückung geistiger Freiheit. Willi Graf gewinnt folgenden Eindruck: „eine unvorstellbare vergangene Welt […] Eben Vergangenheit.“ Eben Vergangenheit – als Kontrast zur eigenen inhumanen Gegenwart. Dass Carossa seinerseits über die literarische Gegenbildtechnik gerade diesen Kontrast mit Kritik „zwischen den Zeilen“ einbringen und erklären wollte, ist nicht mehr erkannt worden. Ein unmittelbares „Es geht mich an“ können die beiden Carossaleser nicht mehr empfinden.

Wohin geht dann die Suche derer, die „nach innerer Freiheit und Selbstbestimmung trachten“? Erinnern Sie sich noch an den Brief Robert Scholls vom Anfang?
Da schreibt der Vater von einem handschriftlichen Eintrag seines Sohnes im „Jahr der schönen Täuschungen“:                                                                                                                 1941 „Omnium virtutum fundamentum pietas“.
„Die Grundlage aller Tugenden ist die Ehrfurcht“.
Für Hans Scholl ist es die Ehrfurcht vor Gott, der christliche Glaube. Auf seiner Suche nach dem Lebenssinn war er zur christlichen Botschaft gekommen. Christus sei das Ziel der „Sehnsucht nach dem Licht“ – „die einzige helle Stelle, die uns geblieben ist – und bleiben wird“, bekennt er in einem Brief. Auch das Leid „als allergrößter Wert des europäischen Menschen“ verkörpere sich in Christus – und finde da seinen Sinn.

Blicken wir in einer kurzen Summa zurück:

Für Willi Graf und Hans Scholl sind Carossas Werke eine wegweisende Literatur, eine Art ethischer Basisliteratur. Sie erwarten und finden „Führung und Geleit“. Carossa „sagt ihnen viel“. Er hilft ihnen bei der Besinnung auf sich selbst.

Dabei ist Willi Graf eher ein analysierender Leser, Hans Scholl liest vor allem mit Blick auf sich selbst, sucht die Identifikation.
Vorbehalte haben sie gegenüber dem letzten Werk Carossas, das sie noch lesen konnten. Die literarische Brücke von einer Zeit geistiger Freiheit in die Gegenwart ideologischen Zwangs ist brüchig geworden. Wo „freie Selbstbestimmung“ nicht mehr Grundlage „geistiger Werte“ sein kann, erwächst für beide „Carossaleser“ – angesichts der nationalsozialistischen Tyrannis – die sittliche Verpflichtung zum Widerstand.

In der Familie Scholl gilt Carossa als eine integre Persönlichkeit. Mit ihr fühlt sie sich geistig verbunden.Sie hat Halt und Trost gegeben.

Dr. Friedrich Bruckner

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